
Den Wald mit allen
Sinnen erleben: ein Selbstversuch
Meisen singen und zwitschern, die Blätter der Buchen und Eichen rauschen, und ein Buntspecht bearbeitet mit hörbarem Eifer einen Stamm. Die Ruhe im Wald lenkt die Aufmerksamkeit auf Geräusche, die wir im hektischen urbanen Alltag meist überhören oder nur am Rand wahrnehmen. Sie gehen dort schlicht in der allgemeinen Geräuschkulisse unter, von der wir Tag für Tag umgeben sind. Im Wald aber herrscht – relative – Ruhe.
Ein Zustand, der unsere Sinne verwöhnt – und sie schärft, weil sie sich besser fokussieren können! Besonders intensiv lässt sich dieses Gefühl des Ganz-bei-sich-Seins ohne Ablenkungen durch Achtsamkeitsübungen fördern, die garantieren, dass Du Dich wirklich voll und ganz auf die entspannende Umgebung des Waldes einlässt und buchstäblich in die Natur eintauchst.


Waldbaden: bewusst, aber ziellos
Am besten geht dies beim bewusst ziellosen Umherschlendern zwischen moosbewachsenen Nadelwaldböden und dem von braunen Herbstblättern übersäten Untergrund von Laubwäldern, geborgen unter dem grünen Dach der Bäume. Entspannungsexperten empfehlen, pro Stunde bewusst nicht mehr als einen Kilometer zurückzulegen. Darin unterscheidet sich das sogenannte Waldbaden also deutlich von einem gewöhnlichen Spaziergang.
Der Trend stammt aus Japan, wo „Shinrin Yoku“ (Waldbaden auf Japanisch) nicht nur schon viele Jahre praktiziert, sondern inzwischen sogar von Ärzten verordnet wird, also auf Rezept zu haben ist. Tatsächlich belegen wissenschaftliche Studien, wie sehr das bewusste Eintauchen in die Ruhe des Waldes den Stress-Level des Menschen senkt, das Immunsystem stärkt und sogar die Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses verbessert.


Der SDW-Achtsamkeitspfad zum Mitmachen
Inzwischen hat sich das Waldbaden auch in Deutschland durchgesetzt und wird in vielen Orten professionell angeboten.
Für alle, die lieber alleine zwischen Bäumen baden gehen oder das Konzept einmal ausprobieren möchten, hat die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald mit dem SDW-Achtsamkeitspfad ein Programm entwickelt, das Du in Deinem persönlichen Lieblingswald jederzeit unkompliziert anwenden kannst.
In einzeln auswählbaren Übungen, die Du sowohl mit männlicher wie auch mit weiblicher Stimme gesprochen herunterladen kannst, wird erfahrbar, wie Achtsamkeit funktioniert und was sie in Dir bewirkt.


Willkommen im Wald: Aller Anfang ist schwer
Wir haben es ausprobiert und sind an einem Wochenende in einen ruhigen Waldabschnitt in die Nordheide unweit von Hamburg gefahren, wo wir uns auf die Übungen eingelassen haben und eingetaucht sind in die wundersame Welt des Waldes. Tatsächlich ist die Großstadt schon wenige Meter vom Parkplatz entfernt vergessen: Wir sehen nichts als Grün, rechts und links stehen Buchen, die bald in einen Fichtenwald übergehen. Wir saugen die frische Luft und den Waldgeruch – eine Mischung aus Fichtenduft und modrigem Laub – tief ein und starten mit unserem Achtsamkeits-Experiment.
Wir stellen unsere Smartphones auf Abwesenheitsmodus, um ungestört zu sein, und stöpseln die Kopfhörer in die Ohren.


Die Ruhe genießen: Entspannung unter Bäumen
Dieses Sich-Einlassen und Entspannen ist der Schlüssel für alle Achtsamkeitsübungen, das merken wir schnell. Wer Yoga macht, wird sich schnell einfinden, andere brauchen vielleicht etwas länger. Doch ist das geschafft, gehen die verschiedenen Übungen des virtuellen Achtsamkeitspfads gut von der Hand. Wir haben uns für jede Übung einen schönen Ort abseits der Wege gesucht, der uns geeignet erschien und ausreichend Ruhe bot.
So haben wir die beiden folgenden Übungen „Gehen“ und „Fühlen“ ohne Probleme absolviert. Die Gehen-Station funktioniert am besten barfuß, so lässt sich mit den vielen kleinen Sensoren am Fuß der Wald unmittelbar erspüren – zumindest dann, wenn Deine Füße nicht zu empfindlich sind. Sonst könnten spitze Zweige oder Nadeln zu sehr ablenken.
Erfühlt haben wir gleich zwei Dinge, einen Zapfen und einen Stein. Interessant dabei ist die Erfahrung, dass diese eigentlich bekannten Gegenstände durch das konzentrierte Ertasten ein ganz anderes Gesicht bekommen: Sie werden durch das bewusste Erfühlen vielfältiger und variantenreicher, als wir sie bisher durch flüchtiges Betrachten und Befühlen erlebt haben.


Die eigenen Sinne intensiv erleben
Nachdem wir uns eingegroovt haben, gelingen die nächsten Übungen perfekt. Die wenigen Menschen, die – meist von einem Hund begleitet – vorbeispazieren, bemerken wir schon fast gar nicht mehr, so sehr haben wir unsere Sinne fokussiert. Wir sind in diesen Momenten ganz bei uns und fast eins mit dem Wald, scheint es uns im Rückblick.
Nach knapp zwei Stunden Achtsamkeitspfad sind wir ganz eingenommen von diesem interessanten, leicht erhebenden Gefühl, das sich neu und gut anfühlt. Und das, wie der Ausblick der Achtsamkeitsübungen empfiehlt, tatsächlich auch später im Alltag hilft, die innere Ruhe in herausfordernden Situationen wiederzuerlangen. So zumindest empfinden wir es mit etwas Abstand – und wir beschließen, uns zukünftig in besonders stressigen Zeiten öfter mal eine individuelle Auszeit im Wald zu gönnen, um zu entspannen und neue Kraft zu schöpfen.


Der Pfad der Achtsamkeit: die Hintergründe
Die Idee, einen Achtsamkeitspfad für jedermann zu schaffen und somit das Thema Waldbaden einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, entstand im Juli 2018 während der „European Summer School – Creating Forest Experiences“, die von der SDW in Bonn durchgeführt wurde. Dort entwickelten junge Erwachsene aus 60 Nationen gemeinsam innovative Ideen für neue Freizeitmodelle, mit denen der Wald erlebbar wird.
Der SDW-Achtsamkeitspfad ist eines der Ergebnisse – und wurde sogar an einem realen Ort im Kottenforst im Bonner Stadtbezirk Bad Godesberg verwirklicht: Seit Sommer 2019 kannst Du hier die acht Stationen auf einem rund zwei Kilometer langen Pfad erleben. Er startet am Waldrand, etwa 100 Meter von der Gezeiten Haus Klinik (Venner Str. 55, 53177 Bonn) entfernt. Jede Station ist mit einer Tafel gekennzeichnet, auf der sich die Audio-Übungen mittels QR-Code abrufen lassen.